Das Leben nach dem Tod

Neun Jahre lang hatte Brigitte Gordis Angst um ihren depressiven Sohn. Als er sich selbst tötete, fürchtete sie, daran zu zerbrechen. Doch sie fand einen Weg zu Mut und neuer Hoffnung

Raus, raus, einfach nur raus. Ins Auto steigen, den Motor zünden und weg. Jetzt. Sofort. Irgendwohin, weit draußen vor die Stadt. Dorthin, wo niemand die Schreie und das Weinen hört. Wo die Weite den Schmerz schluckt und der Druck endlich entweichen kann. Viele Male ist Brigitte Gordis einfach losgefahren, wenn sie die Trauer um ihren Sohn Matthias wieder einmal nicht mehr in sich halten konnte. Um ihre Seele zu erleichtern. Und um nicht auch depressiv zu werden, so wie es Matthias über Jahre seines Lebens gewesen war – bis er es selbst beendete.
Brigitte Gordis möchte reden. Sie will erzählen von dem, was ihrer Familie passiert ist. „Weil Depression und Suizid in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu sind, über das kaum gesprochen wird“, sagt sie. Das Schweigen mache es schwer, den Betroffenen zu helfen – Gefährdeten ebenso wie Hinterbliebenen. „Diese Gesellschaft muß akzeptieren, dass auch Suizid zum Leben gehört und wir nicht alle retten können.“
Sie hat es selbst lange nicht geglaubt, wollte es wohl auch nicht glauben, hat zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden anderen Söhnen versucht, Matthias im Leben zu halten. Bis zum 20. Februar 2008. Da ging der 24jährige in aller Frühe mit einem Seil in den Park und erhängte sich.
Brigitte Gordis sitzt in ihrem Wohnzimmer am Esstisch. Mit ihrem Mann und ihren beiden Hunden lebt die 52jährige in einem Reihenhaus in einem Außenbezirk Hamburgs. Sie schiebt ein Fotoalbum herüber und deutet auf die Bilder. „Das war im ersten Trauerjahr“, sagt sie. Die Fotos zeigen Brigitte Gordis am Grab ihres Sohnes, an seinem Todesbaum, vor einem Bild, das er als Kind gemalt hat. Auf allen ist eine ausgezehrte, aschfahle, von Schmerz und Traurigkeit gezeichnete Frau zu sehen. Sie wirkt beinahe wie der Geist jener Brigitte Gordis, die jetzt hier am Tisch sitzt: immer noch schlank, aber nicht hager, die Lippen dezent geschminkt und mit einer leichten Tönung im dunklen Haar. Sie hat es geschafft, ins Leben zurückzukehren. Bis dahin war es ein langer Weg.
Niemals wird Brigitte Gordis den Augenblick vergessen, als sie das Bild sah, das ein Polizist ihr und ihrem Mann zum Identifizieren entgegenhielt. „Er zeigte uns nur das Gesicht, den Rest des Körpers verdeckte er“, sagt sie. „Und ich sah: Das war mein Matthias. Es war der größte Schock meines Lebens. Wir hatten ihn doch so abgöttisch geliebt.“
Sie hatte schon länger geahnt, dass es irgendwann passieren würde. Dass es keinen anderen Ausweg mehr für ihn gab. „Matthias hat alles versucht und gekämpft wie ein Löwe“, sagt Brigitte Gordis. „Doch es hat nichts genützt. Die Krankheit war stärker als er.“ Die Krankheit, das war die Hebephrenie, eine besonders tückische Variante der Schizophrenie, die sich oft vor allem in Depressionen und einem unerklärlichen Todestrieb zeigt. Neun Jahre hatte Brigitte Gordis mit der Angst um ihren Sohn gelebt. Hatte sie jeden Tag gespürt – mal stärker, mal schwächer – von dem Moment an, als Matthias zu ihr ins Wohnzimmer kam und sagte: „Ich bin schon zweimal aus dem Haus gegangen, um mich umzubringen. Ich glaube, ich muß zum Psychiater.“ Da war er 15.
Immer wieder war Matthias in Behandlung gewesen, hatte Jahre seines Lebens in Praxen, Psychiatrien und Wohngruppen verbracht. Ein Neuroleptikum schien zunächst die Rettung zu bringen: Todessehnsucht und krankhafte Zwangshandlungen verschwanden. Doch das Medikament löschte auch die Gefühle des Jungen aus. Weil er das auf Dauer nicht ertrug, setzte er das Mittel schließlich ab, und der Todestrieb kehrte zurück.

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