Statt sich dauerhaft zu betäuben und das Geschehene zu verdrängen, spürte Brigitte Gordis den letzten Momenten im Leben ihres Sohnes nach. Sie meldete sich in Selbströtungsforen im Internet an und suchte dort nach Einträgen von Matthias – vergebens. Doch sie machte den Gärtner ausfindig, der ihn im Park entdeckt hatte, und ließ sich von ihm den Baum zeigen, den ihr Sohn zum Sterben ausgewählt hatte. Eine kleine Buche in einer Ecke, an der weder Läufer noch Kinder gewöhnlich vorbeikamen. An den Todestagen ist sie dorthin gefah ren und hat versucht, sich in Matthias’ Lage zu versetzen. „Als ich die friedliche Stimmung spürte und die ersten Vögel singen hörte, dachte ich: So muss es damals auch gewesen sein. Das hat mir sehr gut getan.“
Es war nicht nur der Schmerz des Verlusts, der die Eltern quälte. Schwere Schuldgefühle trieben sie um, und jeden Tag stellten sie sich aufs Neue dieselben Fragen: Hätten wir ihn retten können? Haben wir wirklich alles getan, um Matthias zu helfen? Heute ist Brigitte Gordis sicher, dass sie keine Chance harte, ihren Sohn vor dem letzten Schritt zu bewahren. „Aber ich hätte einiges tun können, um ihm das Leben zu erleichtern“, sagt sie. „Ich habe immer von ihm verlangt zu kämpfen und versucht, ihn anzutreiben, als er kraftlos war. Er hat ja manchmal monatelang nur auf dem Sofa gelegen, bis es komplett durch war und wir ihm ein neues kaufen wollten. Im Nachhinein bin ich da oft zu streng gewesen.“
Mittlerweile habe sie die Schuldgefühle überwunden, sagt Brigitte Gordis. Geschafft hat sie das auch mithilfe anderer Hinterbliebener, mit denen sie sich über das lntemet im Forum der Selbsthilfeorganisation für Angehörige um Suizid (Agus) noch heute täglich austauscht. „Hier gab es Menschen, die in der gleichen Situation waren wie wir. Ich sah: Sie hatten Ähnliches erlebt – und sie hatten es überlebt. Das machte mir Mut.“
Bei Agus fand Brigitte Gordis das Verständnis. das sie bei vielen Freunden und Bekannten vermisste. „Die meisten gingen sehr schnell wieder zur Tagesordnung über und sprachen auf einmal nicht mehr über das Thema“, erzählt sie. „Sie wollten die alte Brigitte Gordis zurück, aber die gab es nicht mehr.“
Die neue Brigitte Gordis hat gelernt, dass sie für immer mit dem Schmerz leben muss. „Ich werde niemals ganz darüber hinwegkommen“, sagt sie. „Aber ich möchte auch wieder lachen können und nicht verbittern. „Manchmal gelingt ihr das schon ganz gut, Zum Beispiel sonntags, wenn ihre beiden Söhne zum Essen kommen. „Dann lassen wir nebenbei im Fernsehen etwas Albernes laufen, das kann gar nicht blöd genug sein. Und dann lachen wir uns darüber kaputt.“
Brigitte Gordis spürt eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass es ihr „trotz allem mittlerweile wieder einigermaßen gut geht“ – auch wenn ihr bewusst ist, dass der Schmerz sie jederzeit wieder auf ihrem Weg zurückwerfen könnte. Die Angst um Matthias‘ Leben, die sie und ihre Familie viele Jahre lang begleitete, ist dem Leid um seinen Tod gewichen. Aber sie hat ihren Frieden gemacht mit dem, was passiert ist. Alles sei jetzt ruhiger. Und manchmal kehre sogar die Lebensfreude wieder zurück, wenn auch nicht die überschäumende, die sie einmal harte. „Es ist eben ein Leben mit Trauer“, sagt Brigitte Gordis. „Aber es ist kein trauriges Leben.”
stern Gesund leben 5/2010
© Torben Müller